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Io sono Li
(Shun Li und der Poet)

Ein Film von Andrea Segre
Italien, Frankreich. 2011. 1h36
Mit Zhao Tao (Shun Li), Rade Sherbedgia (Bepi), Marco Paolini (Coppe), Roberto Citran (der Anwalt), Giuseppe Battiston (Devis)

1. In Stichworten

Photo filmShun Li, eine junge Chinesin, arbeitet in einer Textilfabrik in einem Vorort von Rom. Von dort wird sie eines Tages nach Chioggia, eine Stadt in der Provinz Venedig, geschickt, um als Bedienung in einem Café zu arbeiten, zu dessen Stammgästen eine Gruppe alter Fischer gehört. Zwischen einem dieser Fischer, dem Jugoslawen Bepi, genannt „der Poet", der vor 30 Jahren nach Italien einwanderte, und der Chinesin entwickelt sich eine Freundschaft. Diese Beziehung wird jedoch sowohl von den Italienern des Viertels als auch von der chinesischen Gemeinde missbilligt.

Io sono Li, erster Spielfilm des Dokumentarfilmers Andrea Segre, ist die behutsame und feinfühlige Schilderung einer gegenseitigen Annäherung zweier Personen aus unterschiedlichen Kulturkreisen.

2. Eine Chinesin in Italien

Photo filmShun Li ist nach Italien gekommen, um zu arbeiten. Zunächst ist sie in einer Textilfabrik in einem Vorort von Rom tätig, dann wird sie nach Chioggia, eine Stadt in Venetien, geschickt, um dort in einem Café die Gäste zu bedienen. Über ihre Person bestimmt eine chinesische Organisation (die Mafia?), die ihr Flugticket und ihre Aufenthaltserlaubnis bezahlt hat: Schulden, die sie zurückzahlen muss, indem sie dieser Organisation auf unbestimmte Zeit zu Diensten steht. Zudem steht Shun Li unter Druck, weil sie ihren kleinen Sohn in China zurücklassen musste. Er darf erst zu ihr kommen, wenn sie ihre Schulden vollständig getilgt hat.

In Chioggia, wo sie als Bedienung in einem Café arbeitet, hat sie engen Kontakt zur italienischen Bevölkerung, in diesem Fall vornehmlich zu Fischern fortgeschrittenen Alters. Zweifellos hat Shun Li niemals zuvor die Gelegenheit gehabt, Italienern so nahe zu kommen wie dort. Zur Stammkundschaft des Cafés gehört insbesondere eine Gruppe von Freunden: Bepi, Coppe, der Anwalt und Moustache, die sich regelmäßig in der Osteria Paradiso einfinden, um ein Gläschen zu trinken und zu reden oder Karten zu spielen. Diese vier Männer behandeln die neue Bedienung freundlich: So erklären sie ihr zum Beispiel die Bestellungen und wie sie zu servieren sind … Sie treiben auch auf nette Art ihre Scherze mit ihr, denn sie versteht und spricht nur wenig Italienisch. Aus ihrer Position der Stärke heraus legen die alten Männer gegenüber der jungen Frau, die fremd und ganz allein ist, eine „wohlwollende Überlegenheit" an den Tag, könnte man sagen, in die sich Neckereien und Nachsicht mischen. Das unterscheidet sie von zwei weiteren, jüngeren Gästen, Devis und einem seiner Freunde, die auf Li herabsehen.

Photo filmMit der Zeit kommt es zur Annäherung: Die Fischer erhalten Kostproben chinesischer Küche und wissen sie unterschiedlich zu schätzen; man lädt Li ein, auf den Ruhestand von Coppe anzustoßen … Aber es ist vor allem Bepi, ein seit 30 Jahren in Italien lebender Jugoslawe, der sich mit Li verbunden fühlt: Er kommt mit ihr ins Gespräch und erfährt, dass ihr Vater von Beruf Fischer war, wie er selbst. Sie zeigt ihm Fotos ihres Vaters bei der Arbeit, dann ein Foto ihres Sohnes. Sie vertraut ihm an, dass ihr Sohn ihr fehle und sie darauf hofft, ihn bald wiederzusehen. Sie erzählt ihm auch vom Dichterfest, einem Brauch, der ihr viel bedeutet, und weckt damit Bepis Interesse, der in seiner Freizeit selbst Gedichte schreibt. Ihm gefällt diese bezaubernde Tradition, die darin besteht, zu Ehren des großen chinesischen Dichters Qu Yuan Laternen auf dem Fluss schwimmen zu lassen. Auch politisch ergeben sich Berührungspunkte zwischen Li und Bepi: Bepi weiß aus seiner Zeit in Jugoslawien unter Tito, was es heißt, im Kommunismus zu leben ... Zwischen diesen beiden Figuren, denen zudem gemeinsam ist, dass sie einsam sind und in der Fremde leben, wächst eine Freundschaft, die immer enger wird: Bepi bietet Li an, sein Telefon zu benutzen, um ihren Sohn in China anzurufen, und er fährt mit ihr hinaus auf die Lagune zu seiner auf Pfählen errichteten Fischerhütte. Dort, angesichts der Traurigkeit von Li, die nicht weiß, wann sie ihr Kind wiedersehen wird, nimmt Bepi sie in den Arm.

Mehr braucht es nicht, um das Gleichgewicht zu stören, das sich zwischen Li und den Italienern gebildet hatte. Es verbreiten sich Gerüchte über eine Beziehung zwischen Bepi und der jungen Frau. Auf dem Nährboden dieser Verdächtigung sprießen die wildesten Hirngespinste: Sie würde für die chinesische Mafia arbeiten, die Frauen losschicke, alte Italiener zu verführen und zu heiraten, um schließlich das Erbe an sich zu reißen … Überhaupt seien die Chinesen überall, die reinste Invasion, ein neuer Imperialismus. Auf der anderen Seite betrachten auch die Chinesen die Beziehung zwischen Li und Bepi mit Argwohn, eben darum, weil sie die Gerüchteküche schürt. „Deinetwegen reden die Italiener schlecht über uns Chinesen", werfen sie Li vor und verbieten ihr im selben Atemzug, jemals wieder mit Bepi zu sprechen, es sei denn, um seine Bestellung aufzunehmen und sie ihm zu servieren. So nimmt die Freundschaft zwischen Li und Bepi unter dem Druck ihrer jeweiligen Gemeinschaft ein jähes Ende.

Photo filmEine junge, harmlose Frau (allein, fremd, abhängig, ohne Sprachkenntnisse …) wird plötzlich zur Bedrohung für die italienische Bevölkerung … Der Film von Andrea Segre zeigt eindrucksvoll, wie eine Grenze überschritten wird, wodurch sich komplett die Sichtweise verändert, mit der die eine Gruppe auf die andere blickt und umgekehrt. Li und Bepi nähern sich einander so weit an, dass es nicht mehr hinnehmbar scheint, ganz als ob ihre Freundschaft plötzlich alle anderen ausschlösse, als ob die eine den anderen der Gruppe, der er angehört, entziehen könnte. Aber es ist vor allen Dingen der Status der Figuren, der sich schlagartig ändert. Li wird plötzlich nicht mehr als eine mehr oder weniger unbedeutende Servierkraft angesehen, sondern vielmehr als das Symbol oder die Vorhut des imperialistischen Chinas! Und Bepi, den man zuvor eigentlich immer wieder gern an seine fremdländische Herkunft erinnert hatte, steht plötzlich für Italien und seine Reichtümer. Dabei besitzt er selbst nicht mehr als einen Motorroller und eine Hütte!

Die Zuschauer, denen die Figuren Li und Bepi inzwischen zweifellos ans Herz gewachsen sind, empfinden diesen Stimmungsumschwung als ungerecht. Und doch wird ihnen hier nur vor Augen geführt, was eine Stereotypisierung bewirken kann - und wer von uns ist nicht auch schon irgendwann einmal stereotypen Denkweisen anheim gefallen? Sobald man glaubt (bisweilen zu Unrecht), sich einer Bedrohung gegenüber zu sehen[1], wie in diesem Fall der Möglichkeit, dass Li Bepi heiraten und sich seines Hab und Guts bemächtigen könnte, wird nicht mehr das Individuum an sich wahrgenommen, sondern dieses tritt vielmehr hinter allen Vorurteilen zurück, die man in Bezug auf die Gemeinschaft hegt, der die Person angehört: Die Chinesen schwärmen in alle Welt aus, sie werden uns unsere Besitztümer wegnehmen. Als Bepi nach Entstehung der Gerüchte das Café betreten will, stellt sich Devis ihm in den Weg und sagt: „Hüte dich vor der chinesischen Mafia!", als ob Li selbst eine Gefahr darstellen würde.

In der Presse[2] wird regelmäßig darüber berichtet, dass die Chinesen weltweit investieren; das rasante Wachstum Chinas beeindruckt die Nationen, die da nicht mithalten können ... Und so wird der öffentliche Diskurs über ein Land oder eine Volksgruppe plötzlich einem Individuum übergestülpt, dessen ganz eigene Qualitäten und Fehler keine Rolle mehr spielen. Eine zärtliche Geste zwischen Bepi und Li wird als Beweis einer Liebesbeziehung und gar einer zukünftigen Heirat gedeutet, ganz als würde die Figur der Li alle Verdächtigungen und Ängste heraufbeschwören, die eine Gemeinschaft gegenüber einer anderen hegt.

So kann man Io sono Li als eine Warnung vor den Gefahren der Stereotypisierung verstehen. Der Gefahr einer Verzerrung unserer Wahrnehmung, durch die wir Personen unter gewissen Umständen nicht mehr als Individuen betrachten, sondern allein als Träger aller schlechten Angewohnheiten oder bösen Absichten, die ihrem Volk oder ihrer Herkunftskultur unterstellt werden.

3. Kontraste und Komplementarität

Photo filmDer Bruch der Beziehung zwischen Li und Bepi, gleichbedeutend mit der Störung des Gleichgewichts zwischen Italienern und Chinesen und zwischen den Italienern italienischer Abstammung und Bepi, lässt sich unterschiedlich interpretieren. Es lässt sich die Hypothese aufstellen, dass die Beziehung zwischen Li und Bepi ein ganzes Sozialgefüge, nämlich das der kleinen Stadt Chioggia, ins Wanken bringt. Die italienische Gesellschaft, wie sie im Film dargestellt wird, scheint sich darauf verständigt zu haben, alle Arten von Gegensätzen oder gar Spaltungen auszuhalten, deren Nebeneinander trotz allem zu einer gewissen Form von Harmonie führt. Indem sie diese Gegensätze aufweichen, scheinen Bepi und Li das soziale Gleichgewicht in Gefahr zu bringen.

Der Film beginnt mit der Darstellung chinesischer Tradition in Form der Zeremonie zu Ehren des Dichters Qu Yuan. Diese Tradition taucht im Film verschiedentlich wieder auf und die Symbolik des Yin und Yang, die zwar nie explizit thematisiert wird, ist in bestimmten Szenen sehr präsent. So vergleicht Li in einem Brief an ihren Sohn das Meer, im Italienischen ein Wort mit maskulinem Genus, das immer in Bewegung ist, den Wellen und dem Wind ausgeliefert, mit der ruhigen und geheimnisvollen Lagune, einem im Italienischen femininen Wort. Zwei Wörter, die für die zwei Seiten ein und derselben Sache stehen. Analysiert man Io sono Li unter dem Blickwinkel der Kontraste, so ist festzustellen, dass der Film diesbezüglich viel zu bieten hat.

Der Kontrast zwischen den Chinesen und den Italienern natürlich, die sprachlich, kulturell und sogar kulinarisch in verschiedenen Welten leben. Dennoch leben sie in einvernehmlicher Koexistenz und eine Szene wie die Marktszene, in der man den Chinesen feilschen und Garnelen kaufen sieht, veranschaulicht recht repräsentativ, wie man trotz aller Unterschiede miteinander auskommen kann.

Photo filmDer Kontrast zwischen Mann und Frau: Das Café wird ausschließlich von Männern besucht und Li ist ganz allein hinter der Bar. Die einzige Frau, die im Film die Osteria betritt (und sie gleich darauf wieder eilig verlässt), ist die Frau von Devis, die wutentbrannt ihren Sohn bei seinem Vater abliefert, damit sie mit dem jüngeren Kind zum Arzt gehen kann. Auch auf den Fischerbooten arbeiten Männer. Die Frauen sind in diesem Film deutlich weniger präsent. So scheinen sich Männer und Frauen in parallelen Welten zu bewegen, die kaum Berührungspunkte aufweisen.

Alt und jung wird ebenso in Kontrast gesetzt. Die Gruppe der alten Fischer ist relativ homogen. Sie kontrastiert mit Devis und seinem Freund, die Li nicht dasselbe Wohlwollen entgegenbringen, die dubiose Geschäfte treiben und sich damit brüsten, über viel Geld zu verfügen. Bepi selbst streitet mit seinem eigenen Sohn, der ihm seine „altmodische" Lebensweise vorwirft (ohne Auto, ohne Aufzug, ohne Mikrowelle …) und der ihn als älter ansieht als er ist … (Er sähe seinen Vater am liebsten in die Nähe von Mestre umziehen, wo er selbst wohnt, für den Fall, dass „etwas passiert". Bepi antwortet darauf: „Ich bin zwar allein, aber noch nicht tot!").

So prallen die unterschiedlichen Lebensentwürfe der Protagonisten unter den Jungen und den Alten aufeinander. Die Jungen verfechten eine gewisse Modernität, eine dem Materialismus verpflichtete Effizienz, während die Alten auf das Alte, auf Schlichtheit, Tradition und Freundschaft Wert legen. (Ganz zu Anfang des Films sieht man bei den Chinesen ebenfalls genau diesen Gegensatz zwischen Achtung der Tradition — die Ehrung des Dichters durch Shun Li — und der Maßlosigkeit des Glücksspiels.)

Photo filmDes Weiteren wird Arbeit und Ruhe bzw. Untätigkeit in Kontrast gesetzt. Die Arbeit der Fischer ist körperlich hart und technisch anspruchsvoll. Devis hingegen, der nicht zu arbeiten scheint, hat Spaß daran, mit Motorbooten durch die Lagune zu rasen, und brüstet sich damit, dass er in kürzester Zeit mit wenig Aufwand viel Geld verdiene … Als die Freunde auf den Ruhestand von Coppe anstoßen, laden sie den Chinesen ein mitzufeiern, der jedoch lehnt ab, weil die Arbeit noch nicht getan ist. „Die Arbeit, immer die Arbeit!", antworten darauf die alten Fischer. Das Thema Arbeiten und Nichtstun ist im Film sehr präsent und dieser Kontrast lässt sich ausweiten und auf Europa übertragen, das altert und in eine Phase der Arbeitsruhe (wenn nicht gar der Rezession ...) eingetreten zu sein scheint, im Gegensatz zu China, das wachstumsstark und energiegeladen ist.

Die Beziehung zwischen Li und Bepi weicht diese Gegensätze auf, denn es handelt sich um die Annäherung zwischen einem (assimilierten) Italiener und einer Chinesin, einem Mann und einer Frau, einem Alten und einer Jungen, einem Pensionär und einer Werktätigen … Vielleicht ist es gerade diese geballte Menge an Kontrasten, die als Bedrohung der sozialen Ordnung empfunden wird, denn durch diese Beziehung werden zu viele Konventionen auf einmal in Frage gestellt.

4. Eine filmische Sprache zwischen Effizienz und Rätselhaftigkeit

Der Film von Andrea Segre hat eine sehr klare und zudem außergewöhnlich effiziente Bildsprache. Der Zuschauer erfährt sehr viel in sehr kurzer Zeit. Gleich mit der ersten Szene des Films, zum Beispiel, noch vor Einblendung des Titels, wird dem Zuschauer Lis Situation vorgestellt und die Zeremonie zur Ehrung des Dichters eingeführt, die als wiederkehrendes Motiv für den Film von Bedeutung ist.

Photo filmDiesem an den Anfang des Films gestellten Leitmotiv des chinesischen Dichters Qu Yuan folgen die ersten Bilder des Films, die zeigen, wie zwei Chinesinnen kleine Kerzen aufs Wasser setzen. Damit wird der Film sofort in die chinesische Tradition eingebettet. Aber die friedvolle, andächtige, geheimnisvolle Stimmung, die diese Szene vermittelt, findet durch das plötzliche Auftreten eines Mannes ein jähes Ende, der das Licht einschaltet (und nun erkennen wir, dass sich die Szene in einem Badezimmer abspielt und der vermeintliche Fluss eine Badewanne ist) und die feierliche Handlung verachtungsvoll mit den Worten abtut: „Wir sind hier in Italien!". Dann uriniert er vor den Augen der zwei andächtigen Frauen, ganz so, als wolle er seine Geringschätzung dadurch noch unterstreichen. Auf diese Weise weiß der Zuschauer sofort, um was es geht: Wir sind bei den Chinesen in Italien, es besteht eine Kluft zwischen den jungen Frauen, die an Traditionen festhalten, und den Männern, die nebenan Mah-Jong spielen, trinken und fluchen. Einer der beiden Frauen, Shun Li, folgen wir dann in die Textilfabrik. Sie wird zum Vorarbeiter gerufen, der ihr eröffnet, dass sie in Chioggia, einer Stadt in Venetien, gebraucht wird. Shun Li hat keine Wahl: Ihr Flugticket und ihre Aufenthaltsgenehmigung wurden für sie bezahlt und sie muss nun die gesamten Schulden abarbeiten. Shun Li erklärt, dass sie verstanden hat, kehrt in ihr Zimmer zurück und formuliert im Kopf bereits einen Brief an ihren in China verbliebenen Sohn: Er fehle ihr, aber sie werden sich bald wiedersehen. Ihr Arbeitseinsatz hat nur ein Ziel: die Reise für ihr Kind bezahlen zu können. All das wird erzählt, bevor überhaupt der Titel des Films auf der Leinwand erscheint.

Folgende Situation wird dem Zuschauer vermittelt: Shun Li ist einer chinesischen Organisation ausgeliefert, der sie Geld schuldet. Ihr Sohn darf erst kommen, wenn diese Schulden getilgt sind. Ihr liegt viel an chinesischen Traditionen, die sie in Italien nur schwierig ausleben kann. So kann man ihr Gefühl der Entwurzelung und Einsamkeit nachempfinden.

Photo filmDoch so explizit der Film in einigen Szenen, wie der eben vorgestellten, seine Botschaft transportiert, so vieldeutig, geradezu rätselhaft, bleibt er an anderer Stelle. Zum Beispiel wird die chinesische Organisation, der Li Geld schuldet, vielschichtig dargestellt. So weiß Li nicht, wann ihre Schulden abgetragen sein werden, sie wartet auf mysteriöse „Nachrichten", die irgendwann einmal kommen sollen, sie muss der Organisation gehorchen, die sie an so unterschiedliche Arbeitsorte schickt wie eine Textilfabrik in Rom und ein kleines Café in Chioggia, es steht die Drohung im Raum, bei Fehlverhalten mit der Abzahlung ihrer Schulden noch einmal von vorn beginnen zu müssen – all das lässt die Organisation in einem zwielichtigen und kriminellen Licht erscheinen, so dass man sie als mafiöse Struktur wahrnimmt. Auf der anderen Seite scheint diese Organisation jedoch nicht darauf aus zu sein, das Leben einzelner Personen zu zerstören, wie es eine durch und durch übelgesinnte Bande täte. Die Arbeitsbedingungen in der Fabrik scheinen annehmbar zu sein (die Arbeiterinnen scheinen nicht unter Druck zu stehen, der Maschinenlärm ist nicht ohrenbetäubend ...); der Vorarbeiter tritt recht wohlwollend auf und die „Versetzung" von Li macht eher den Eindruck einer Beförderung in Anerkennung der Qualität ihrer Arbeit; Li reist allein von Rom nach Chioggia; ihre Unterkünfte sind wahrlich nicht sehr komfortabel, aber auch nicht menschenunwürdig; ihre Arbeit im Café ist eine ganz normale Arbeit, Li scheint nicht hemmungslos ausgebeutet zu werden (auch wenn sie erst einmal lange keinen freien Tag erhält). Am Ende ist die Organisation damit einverstanden, dass jemand anderes Lis Schulden bezahlt und sie damit ihren Sohn früher als erwartet zu sich holen kann.

Auch einige der Personen lassen sich nur schwer einordnen. Zum Beispiel Devis, dessen Machenschaften im Dunkeln bleiben und ebenso dubios erscheinen wie die der chinesischen Organisation...

Photo filmSelbst die Beziehung zwischen Li und Bepi ist von Ambiguität gekennzeichnet. Handelt es sich nun um Liebe oder Freundschaft? Was versprechen sie sich von ihrer Beziehung? Die anderen spekulieren sofort, dass Bepi auf eine sexuelle Beziehung aus ist und Li sich nur für Bepis Geld interessiert … Diese Vereinfachung ist allzu karikaturhaft, aber auch für den Zuschauer stellt sich die legitime Frage nach der Art ihrer Beziehung.

Und dann enthält der Film noch ein großes Rätsel: Lian, die Zimmergenossin von Li. Sie scheint nicht zu arbeiten. Sie ist immer da, sitzt auf dem Bett und liest Zeitschriften. Und doch wird sie uns in einigen rätselhaften Szenen auch an anderen Orten gezeigt, insbesondere nachts auf der Straße. Was macht Lian nach Einbruch der Dunkelheit da draußen? Die Vermutung liegt nahe, dass sie für die chinesische Organisation als Prostituierte arbeitet. Aber ist das eine statthafte Interpretation? Geht man von der Annahme aus, dass sie anschaffen geht [4], und denkt weiter, so könnte man sich vorstellen, dass Lian anders als Li unter sehr schlimmen Bedingungen arbeitet, an denen sie zerbrechen könnte. Als Li ihrer Zimmergenossin von ihrer Freundschaft mit Bepi erzählt, rät Lian ihr, auf der Hut zu sein: „Die Italiener sind unsere Kunden", sagt sie, eine durchaus zweideutige Aussage, wenn man bei der Annahme der Prostitution bleibt. Und wie soll man Lians Handeln am Ende des Films verstehen? Vielleicht entscheidet Lian, weil sie das Gefühl hat, von der Mafia, die sie in die Prostitution zwingt, zugrundegerichtet zu werden, sich für Li zu opfern. Man könnte sich auch vorstellen, dass Lian einen Teil des mit der Prostitution verdienten Geldes abzweigt[4], als Rücklage für Li, und dann spurlos verschwindet …

Der Film von Andrea Segre, der auf den ersten Blick eine klare Sprache spricht, erweist sich insofern bei näherer Betrachtung als unschärfer und vielschichtiger als gedacht. Ob in Bezug auf die Handlung oder die Personen: Der Film lädt dazu ein, den ersten Eindruck, der nur ungefähre, voreilige und undifferenzierte Schlüsse zulässt, hinter sich zu lassen.

5. Fragen und Situationen zur Diskussion über den Film

Warum sind die Italiener Ihrer Meinung nach gegen die Beziehung zwischen Li und Bepi? Was stört sie an dieser Beziehung? Schließen Sie sich der folgenden Interpretation an? Sie ist Vorbotin eines neuen chinesischen Imperialismus. Haben Sie eine andere Hypothese?

Warum sind die Chinesen Ihrer Meinung nach gegen die Beziehung zwischen Li und Bepi? Geht es dabei, wie sie vorgeben, allein um das Ansehen der Chinesen, das sie in Verruf bringt? Oder kann es andere, verborgene Gründe für ihre Missbilligung geben? Warum wird Li in eine andere Stadt geschickt, obwohl sie bereit zu sein schien, sich den Chinesen zu fügen und ihre Beziehung zu Bepi zu beenden?

Glauben Sie, dass sich die Geschichte auch an einem anderen Ort hätte zutragen können (in Ihrer Stadt, Ihrem Land, zum Beispiel), mit Personen anderer Herkunft? Wie hätte sich die Geschichte dann abgespielt?

Der Film nimmt einerseits ein glückliches Ende, denn Li kann ihren Sohn zu sich holen, anderseits verschwindet Lian und Bepi stirbt. Welche Grundstimmung dominiert Ihrer Meinung nach: Freude oder Traurigkeit? Welche Erklärung für das Verschwinden von Lian erscheint Ihnen am plausibelsten? Und für den Tod Bepis?

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1. Der Anwalt erklärt: „Die Situation spitzt sich zu."

2. So titelte zum Beispiel Le Monde diplomatique im September 2012 auf Seite 1: «La Chine est-elle impérialiste ?» (China – eine neue Imperialmacht?), ein Artikel von Michael T. Klare.

3. Man beachte, dass Devis vor seinem Freund damit angibt, sich für eine hochwertige, hochpreisige Leistung einer Prostituierten bedient zu haben: Prostitution scheint es in Chioggia also durchaus zu geben.

4. In ihrem ersten Brief an ihren Sohn schreibt Li: „Wenn der Chef 30 Hemden pro Tag verlangt, nähe ich noch 10 mehr, für dich." Eventuell folgt Lian diesem Beispiel und arbeitet mehr, um Geld für den Sohn von Li anzusparen ...


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