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Tabu
Ein Film von Miguel Gomes
Portugal, 2012, 2h00
Mit Teresa Madruga (Pilar), Laura Soveral (die alte Aurora), Ana Moreira (die junge Aurora), Henrique Espírito Santo (der alte Gian Luca Ventura), Carloto Cotta (der junge Ventura), Isabel Cardoso (Santa), Manuel Mesquita (Mário)
Alfred-Bauer-Preis, Berlinale 2012

1. In Stichworten

Der erste Teil des Films Tabu mit dem Titel “Verlorenes Paradies" (Paraíso perdido) spielt im Lissabon unserer Zeit. Protagonistin ist die fünfzigjährige Pilar, Mitglied der christlichen Taizé-Gemeinschaft, die sich für andere und verschiedene gemeinnützige Zwecke engagiert. Sie kümmert sich auch gelegentlich um ihre alte, demenzkranke Nachbarin Aurora, die sich von ihrer schwarzen Dienstmagd Santa verfolgt und von ihrer Tochter verlassen fühlt. Der selbstlose Einsatz Pilars scheint jedoch auf kein rechtes Echo zu stoßen, weder in ihrem Umfeld noch bei der alten Frau, die sich in ihre Wahnvorstellungen zurückzieht.

Der unerwartete Tod Auroras bringt eine tief vergrabene Vergangenheit ans Licht, um die es im zweiten Teil des Films geht: “Paradies" (Paraíso). Gian Luca Ventura, ein Liebhaber Auroras aus längst vergangenen Tagen, erzählt Pilar und Santa aus dem früheren Leben der alten Frau. Es ist die Geschichte einer heimlichen Liebe, die sie und ihn in einer portugiesischen Kolonie in Afrika verband, zu einer Zeit, als bereits die ersten Unabhängigkeitskämpfe begannen. In diesem zweiten Teil, der den Stempel einer Erinnerung trägt, tritt an die Stelle des Realismus des ersten Teils jedoch eine verfremdete, nahezu traumverlorene Ästhetik.

2. Erste Annäherung

Die Mehrheit der Zuschauer wird die ästhetische und filmische Originalität des Films Tabu, der in schwarz-weiß und in einem unüblichen Format gedreht ist, gleich erkennen. Sie könnten sich jedoch auch fragen, ob das schon alles ist: Der Film zeichnet sich insbesondere durch einen erzählerischen Bruch aus, der Gegenwart und Vergangenheit trennt und in dessen Verlauf sich unser Interesse verlagert - von Pilar, der Hauptstädterin christlichen Glaubens, die sich für andere einsetzt, hin zu Aurora, der alten, zweifellos senilen Dame, von deren überraschenden und romantischen Vergangenheit wir durch ihren ehemaligen Liebhaber erfahren.

Diese zwei klar voneinander abgegrenzten Teile des Films scheinen nur durch einen ziemlich dünnen Faden zusammengehalten zu werden, auch wenn sich die Figur der Aurora in verschiedenen Alterstufen in beiden wiederfindet. Es steht natürlich jedem frei, dieses Diptychon und die ästhetischen Merkmale des Films nach eigenem Gutdünken zu interpretieren. Dennoch sind einige Denkanstöße im Interesse einer lebhaften Diskussion sicher nicht fehl am Platz. Die Analyse des Films lässt sich in drei Schwerpunkte unterteilen.

3. Die Geschichte einer Leidenschaft

Es lassen sich mühelos eine Reihe von Analogien und Gegensätzen zwischen den beiden Teilen des Films und den jeweiligen weiblichen Hauptpersonen (Pilar/Aurora) finden: die eine reiferen Alters, die andere jung, die eine von Nächstenliebe geleitet, die andere getrieben von einer viel persönlicheren, wenn nicht gar egoistischen Leidenschaft. Die Romantik des kolonialen “Paradieses" der Vergangenheit kontrastiert darüber hinaus mit dem Realismus des Alltags im Lissabon der Gegenwart.

3.1. Gegensätze

Der erste Teil ist zweifellos vor allem durch seine leicht trübe Atmosphäre und den Eindruck eines unvollendeten Geschehens geprägt. Eine der ersten Szenen zeigt beispielsweise, wie sich Pilar zum Flughafen begibt, um Maya, eine junge Polin, abzuholen. Die junge Frau, die sie dort antrifft, gibt jedoch an, nur die Freundin von Maya zu sein, die selbst nicht nach Lissabon habe kommen können. Der Zuschauer versteht sofort, dass es sich dabei um eine Lüge handelt und das junge Mädchen nur nicht bei der älteren Dame wohnen möchte, sondern vermutlich lieber bei Freundinnen ihres Alters. Pilar wird also mit ihren Erwartungen im Stich gelassen, und scheint dies ohne Wut oder Bitterkeit hinzunehmen.

Ebenso hört sie in der nächsten Filmsequenz geduldig und klaglos der alten Aurora zu, die ihr von einem Traum erzählt, in dem haarige Affen vorkamen und ein Schaffner, dessen Fahrkartenautomat sich als Spielautomat entpuppte, ein Traum, durch den sie wohl erklären will, warum sie ihr gesamtes Geld im Kasino verlor ... Und dann erlebt man Pilar, wie sie an einer Demonstration gegen die Passivität der UNO angesichts eines Genozids teilnimmt, über den der Zuschauer jedoch nichts weiter erfährt: Pilar ist voll guten Willens, gestützt durch ihren aufrichtigen Glauben, für ihre Mitmenschen da, aber sie scheint in einer Welt zu leben, die auf ihre Anwesenheit sowie auch auf ihr Handeln unbewegt, unempfänglich oder gleichgültig reagiert.

Der einzige Mensch, der sich für sie zu interessieren scheint, ein befreundeter Maler, erhält wiederum von ihr wenig Beachtung. Und wenn sie ihn beachtet, dann oft genug mit einem gewissen Unbehagen, so scheint es, wenn sie ein Bild, das er ihr schenkt, aufhängt, nur um es wieder abzunehmen, weil es ihr in Wirklichkeit eigentlich gar nicht gefällt. Eine andere Szene ist diesbezüglich noch aufschlussreicher: Man sieht die beiden im Kino. Er schläft, sie weint still vor sich hin, während sie der Filmmusik lauscht, einer portugiesischen Version von “Be My Baby" der Gruppe The Ronettes (1963).

Als sie das Kino verlassen, wünscht ihr alter Freund ihr ein frohes neues Jahr, macht ihr eine unbeholfene und verschämte Liebeserklärung und überreicht ihr ein Geschenk: wieder eins seiner Bilder! Stimmungsmäßig schwankt diese Szene zwischen Emotionalität und Lächerlichkeit. Der Zuschauer versteht jedenfalls gleich, dass die hier so tollpatschig geäußerte Liebe von Pilar nicht erwidert wird. Alle Szenen des ersten Teils sind in diese ein wenig niederdrückende Atmosphäre getaucht, die eine freudlose Existenz suggeriert. Eine Existenz in Wartestellung.

Der Kontrast zur Leidenschaftlichkeit des zweiten Teils mit seiner Vehemenz, den abrupten Handlungsumschwüngen und dem tragischen Epilog ist somit umso stärker. Und doch werden diese ungleichen Abschnitte durch eine Reihe teilweise hauchdünner Fäden zusammengehalten.

3.2. Verbindungen und Analogien

Zunächst sei noch einmal daran erinnert, dass der Film mit einer ziemlich bizarr anmutenden Szene beginnt: Sie zeigt einen portugiesischen Forscher, der im 19. Jahrhundert in das “Herz des schwarzen Kontinents" vordringt. Ihn treibt nicht die Abenteuerlust oder eine höhere Macht, kein königlicher oder göttlicher Wille, sondern Herzschmerz nach dem Tod einer geliebten Frau. Kurz darauf wird er von einem Krokodil gefressen, das von da an genauso melancholisch ist wie sein Opfer ... Es stellt sich heraus, dass es sich bei diesem Vorspann, der einen ironischen Unterton erkennen lässt, um eine Filmvorführung handelt, bei der Pilar allein in einem dunklen Saal sitzt. Diese in einen kolonialen Kontext eingebettete tragische Liebesgeschichte erhält somit direkt den Stempel filmischer Fiktion, in die sich Pilar anscheinend gern vertieft - man wird sie später mit ihrem Malerfreund bei einer anderen Filmvorführung sehen, die von ihr als zutiefst ergreifend empfunden wird. Will uns der Regisseur Miguel Gomes auf diese Weise bereits mitteilen, dass leidenschaftliche Liebe für diese Figur, deren Alltag jeden Glanz vermissen lässt, nichts weiter ist als ein Traum oder eine Fiktion oder eine Kompensation in Bildern?

Anschließend scheint das Thema der Liebe keine Rolle mehr zu spielen, auch wenn Aurora es in der Nacherzählung ihres Traums nach ihrem glücklosen Besuch im Kasino nebenbei wieder aufgreift: Sie spricht von einer Freundin, der untreuen Ehefrau des wie “ein Affe" behaarten Mannes, die den bekannten Ausspruch zum Besten gegeben habe: “Glück im Spiel, Pech in der Liebe". Dieses beiläufige, in einen relativ absurden Traum eingebettete Zitat wird von den Zuschauern leicht überhört, wie auch das Lied, dem Pilar im Kino mit Tränen in den Augen lauscht: Genau dieses Stück - “Be My Baby" - spielt jedoch im zweiten Teil des Films Gian Luca mit seinem Orchester, bevor er sich für mehrere Monate von seiner Geliebten trennen muss. Die filmische Montage unterstützt dabei die Emotionalität dieses Augenblicks: Aurora hört schluchzend das Lied im Radio, dann wechselt die Einstellung zu Gian Luca, der am Schlagzeug sitzt, das Gesicht verzerrt vor Kummer. Die Liebe, ob sie nun wirklich erlebt oder, wie von Pilar, nur im Kino mitverfolgt wird, wirkt somit als ein wichtiger Kanal intensiver Emotionen für die in den beiden Teilen in Szene gesetzten Personen.

Auf der Sachebene stellt man darüber hinaus fest, dass die zwei Teile des Films in klare zeitliche Abschnitte aufgeteilt sind: im ersten Teil in Tage (vom 28. Dezember 2010 bis zum 3. Januar 2011), im zweiten in Monate (von Oktober bis August, ohne Angabe des Jahres). Diese bewusst unterschiedlich gewählte Zeiteinteilung ist zweifellos ein Mittel zur Verstärkung des Gegensatzes zwischen einerseits der Leidenschaft, die dafür sorgt, dass die Zeit nur so verfliegt, und andererseits einem Alltag, der die Zeit langsam vergehen, wenn nicht gar stillstehen lässt.

Von daher stellt sich die Frage, ob man den Titel der beiden Teile nicht wörtlich nehmen sollte: Verlorenes Paradies / Paradies? Ganz tief drin in einer erstarrten, unerfüllten Gegenwart voller Enttäuschungen hält sich die Erinnerung an eine lebendigere, intensivere, leidenschaftlichere Vergangenheit verborgen. So erscheinen Pilar die Worte Auroras bei ihrem letzten Krankenhausaufenthalt über ein Krokodil, das sich bei Gian Luca Ventura verstecke, genauso absurd[1] (sie antwortet nur, dass Aurora sich ausruhen müsse ...) wie den Zuschauern, aber es zeigt sich bald, dass sie Sinn ergeben, denn sie knüpfen an eine Vergangenheit an, eine tief vergrabene Vergangenheit, die jedoch den Geschmack des Paradieses und seiner verbotenen Frucht bereithält ...

4. Eine Vergangenheit, die nicht vergeht ...

Der Titel des zweiten Teils, “Paradies", könnte einigen Zuschauern unpassend erscheinen, denn Schauplatz dieser hochromantischen und melancholischen Liebesgeschichte ist eine portugiesische Kolonie in Afrika[2], die schon bald darauf im Chaos des Unabhängigkeitskrieges versinkt. Man sieht beispielsweise, wie sich die Kolonialherren im Waffengebrauch üben. Die zwei Liebenden, die Protagonisten dieser Geschichte, beteiligen sich daran allerdings nicht und scheinen ohnehin dieser Welt entrückt zu sein.

Während uns die Kamera Schwarze in der Rolle einfacher Bediensteter oder auf den Feldern der Berghänge ausgebeuteter Landarbeiter zeigt, ist im Grunde klar, dass das besagte Paradies nichts anderes bezeichnet als die geschlossene Gesellschaft der Weißen.

4.1. Zwischen großen Entdeckungen und Kolonisation

Heute ist Portugal ein kleines europäisches Land mit nur 10 Millionen Einwohnern. Ab dem Ende des 15. Jahrhunderts jedoch prägte es ganz wesentlich das Zeitalter mit, das in die Geschichtsbücher als das Zeitalter der großen Entdeckungen einging. Diese Ära der Entdeckung der Welt durch mutige Seefahrer gilt in Portugal, aber auch in ganz Europa noch immer als ein Zeitalter des Heldentums - ein goldenes Zeitalter, das vor allem von Luis de Camõens in seinen berühmten Lusiaden aus dem Jahr 1572 besungen wurde. Dieses Bild von Glanz, Ehre und Heldentum wurde zweifelsohne häufig genug in Frage gestellt, insbesondere im Zuge der langen Kolonialkriege, die das diktatorische Salazar-Regime in Afrika führte, dann durch den tiefgreifenden Wandel der portugiesischen Gesellschaft im Anschluss an die Nelkenrevolution im Jahr 1975, die das Land zu einer Demokratie machte und seinen Beitritt zur Europäischen Union ermöglichte. Diese Vergangenheit ist nach wie vor ambivalent, mehr oder weniger konfliktbeladen, mehr oder weniger tief vergraben, aber immer präsent.

Der Vorspann in Tabu greift genau diese klischeehaften Bilder der kolonialen Erforschung Afrikas auf, nämlich das Bild eines Abenteurers, der sich allein, begleitet von ein paar einheimischen Trägern, in den gefährlichen Dschungel wagt, auch wenn die ironische Intention des Filmemachers hier deutlich zu Tage tritt und die Irrealität der Szene unterstreicht. Noch wichtiger ist der Erzähler im Off, der darüber aufklärt, dass es nicht die offiziellen Beweggründe kolonialer Unterfangen wie die Ehre Gottes oder des Vaterlandes sind, die die Figur zu dieser Expedition veranlassen, sondern ein dumpfer Herzschmerz, der sie schließlich in einen geradezu lächerlichen Selbstmord treibt: Der weiße Mann auf der Leinwand scheint hier neben sich und seinen Taten zu stehen, die “in Wirklichkeit" aber Bestandteil jeder kolonialen Unternehmung in Afrika mit all ihrer Gewalt und Brutalität sind.

Es ist dieselbe Art von Entrückung, die wir auch im zweiten Teil des Films, “Paradies", sehen, wo sich die zwei Protagonisten mehr und mehr in ihre illegitime Leidenschaft zurückziehen. Im weiteren Sinne stellt man dann fest, dass nur die Kolonialherren signifikante menschliche Empfindungen wie Liebe, Eifersucht, Freundschaft, Reue zu haben scheinen, während die Schwarzen auf die Rolle simpler Befehlsempfänger reduziert sind. Weniger explizit als im Vorspann, aber doch spürbar, wird durch die filmische Umsetzung, vor allem dank der Verfremdung durch die Off-Stimmen, die Illusion deutlich, der sich die Personen hingeben, ihre Gleichgültigkeit gegenüber der realen Welt, die sie umgibt, ihre Isolation in einer größtenteils imaginären Welt.

Wie sollte man da nicht schmunzeln, wenn das Orchester von Gian Luca Ventura mit Überzeugung einen mit romantischen Platitüden gespickten Welthit aufspielt, während das Land einem langen und blutigen Krieg entgegensieht?

4.2. Eine mehrdeutige Gegenwart

Genau diese Überlegungen hinsichtlich der Darstellung der kolonialen Umstände in Tabu geben Anlass, sich auch näher mit dem ersten, realistischer anmutenden Teil des Films zu beschäftigen, mit dem Zeitalter des “verlorenen Paradieses". Im Vordergrund steht die Beziehung zwischen der alten Aurora und ihrer Dienstmagd und Pflegerin Santa. Sofort fallen mehrere gegensätzliche Merkmale dieser zwei Figuren ins Auge: die eine ist inzwischen sehr alt, senil, in früheren Tagen sehr vermögend, aber inzwischen quasi mittellos - Beweis hierfür ist der Pelzmantel, den sie herauslegt, um ihn zur Pfandleihe zu bringen; die andere ist jünger, verfügt über wenig Geld, ist eventuell gerade jüngst eingewandert - sie bemüht sich, schreiben zu lernen, indem sie eine portugiesische Ausgabe des Robinson Crusoe liest, wobei gerade dieser berühmte Roman von Daniel Defoe bekanntermaßen ein Bild der Überlegenheit des weißen Mannes gegenüber den “Eingeborenen" wie Freitag, dem ergebenen Diener seines Herrn Robinson, zeichnet. Man erkennt das hierarchische Gefüge, auch wenn es sich um ein Dienstleistungsverhältnis handelt.

Der Abstand zwischen den einen und den anderen scheint immer noch genauso groß zu sein. Das zeigen, wenn auch eher indirekt, die “Wahnvorstellungen" der Aurora, die sich von ihrer Pflegerin verfolgt fühlt und sie unverfroren als Monster oder Hexe tituliert - daran wird man im zweiten Teil erinnert, als sie einen Koch mit gewissen übernatürlichen Fähigkeiten entlässt, der ihr, neben ihrer Schwangerschaft, ein einsames und bitteres Ende vorausgesagt hatte.

Die Welt auf der einen und auf der anderen Seite scheint auch immer noch genauso voneinander abgeschottet zu sein, und man erfährt nichts darüber, was in Santa vorgeht: Sie tritt genauso verschlossen auf wie die Schwarzen zu Kolonialzeiten, die bloße Statisten sind. Auf Pilars Drängen, die sie zum Handeln bewegen will, damit Aurora eine bessere Pflege erhält, antwortet Santa in ihrer Rolle als folgsame Dienstmagd, die sich allein nach den Wünschen der Tochter der alten Dame richtet (die zweifelsohne ihren Lohn bezahlt).

Einige Zuschauer werden eine solche Interpretation als weit hergeholt empfinden und anmerken, dass die koloniale Situation im Film als ein nur vage skizzierter Hintergrund kein wirkliches Gewicht hat. Der Film von Miguel Gomes beschränkt sich tatsächlich nicht auf die simple Veranschaulichung einer These, auch nicht in Form von Metaphern. Man muss also verstärkt die ästhetische Dimension berücksichtigen, durch die insbesondere der sichtbare Kontrast zwischen den beiden Teilen erzeugt wird.

5. Eine ästhetische Verfremdung

Auch für die Ästhetik der Leinwand wenig empfänglichen Zuschauern fallen bestimmte, sehr offensichtliche Merkmale in Tabu sofort auf, wie die Schwarz-Weiß-Farbgebung oder das relativ eckige Format (1,37:1)[3], das für Kinofilme nicht mehr üblich ist. Und die Kinoliebhaber erkennen natürlich, dass der Film von Miguel Gomes denselben Titel trägt wie ein großer, ebenfalls zweiteiliger Klassiker aus dem Jahr 1931, das letzte Werk von Friedrich Murnau: “Paradise" und “Paradise Lost" (in der englischen Fassung). Also identische Titel, nur in umgekehrter Reihenfolge wie bei Gomes! Und wie es im Titel schon anklingt, handelt auch der Stummfilm von Murnau von einer verbotenen Liebe, auch wenn der Schauplatz ein ganz anderer ist, denn die Handlung spielt sich auf der Insel Bora-Bora in Polynesien ab. Einige Einstellungen im Film von Gomes scheinen sich direkt am Vorgänger-Werk orientiert oder es gar nachgeahmt zu haben, wie die kurze Einblendung, in der Gian Luca in ein Muschelhorn bläst, ein Bild, das bei Murnau mehrfach vorkommt, oder auch der Super-8-Film, den Auroras Ehemann[4] am Rande eines Wasserfalls aufzeichnet und der zwangsläufig an eine der ersten Szenen in Murnaus Tabu erinnert, wo sich die zwei Liebenden das erste Mal an einem ähnlichen Wasserfall begegnen.

5.1. Klassisches Hollywood?

Der Stil des Films von Miguel Gomes - insbesondere der Vorspann und der zweite Teil - entspricht jedoch weniger dem des deutschen Filmemachers, sondern vielmehr dem Stil klassischer Hollywood-Filme, deren Handlung in Afrika spielt. Auffälligstes Merkmal dieser zwei in Afrika angesiedelten Episoden ist sicher das Fehlen akustisch verständlicher Dialoge, ein ganz ungewöhnliches Stilmittel, das natürlich sofort an die Stummfilmzeit erinnert. Die Vertonung des Gomes-Film ist in der Tat sehr durchdacht: Beim aufmerksamen Zuhören stellt man fest, dass es im Wesentlichen die Dialoge sind, die “ausgeblendet" sind, während ein Teil der Umgebungsgeräusche und die Begleitmusik gut vernehmlich sind! Auch hört man die Erzählstimme des alten Gian Luca und auch der alten Aurora, die ihre Jugendbriefe liest. Diese Off-Vertonung ist entscheidend, damit die Handlung verstanden wird.

Die Vorgehensweise ist außergewöhnlich und wird daher von den Zuschauern bewusst wahrgenommen - so hört man zum Beispiel den Schuss, den Aurora abgibt, aber nichts vom Streit der zwei Männer, der diesem vorausging. Da der Regisseur die Erzählstimmen sehr geschickt einsetzt, wird die Vertonung nicht als völlig gekünstelt empfunden. Da der zweite Teil als eine in Bilder gekleidete Erinnerung daherkommt, wird das Fehlen von Dialogen von den meisten Zuschauern als logische Folge dessen aufgefasst, dass es sich um ins Gedächtnis zurückgerufene Bilder handelt. Die Anspielungen auf den Stummfilm, diese “vergangene Kunstform", verstärken diesen Eindruck noch, auch wenn sich die dargestellte Handlung lange nach dem Ende dieser Ära abspielt, vermutlich in den 1960er Jahren, dem Kleidungsstil und der Musik nach zu urteilen.

Eine gewisse Ironie spielt auch ins Geschehen hinein, die den Zuschauer dazu bewegt, die Personen und Handlungen mit einer gewissen Distanz zu betrachten. Das gilt insbesondere für den Vorspann, wo die nachdrücklichen Worte des Erzählers (der den Abenteurer beispielsweise als ein “melancholisches Geschöpf" bezeichnet), die Haltung der im wahrsten Sinne des Wortes gramgebeugten Figur, die leicht scheppernd klingende Klaviermusik, die geradezu absurde Rolle des Krokodils als Instrument des Selbstmords einen leicht spöttischen, wenn nicht gar als schwarzen Humor zu bezeichnenden Unterton transportieren, der sich durch die gesamte Filmsequenz zieht.

Im zweiten Teil ist die Ironie weniger offensichtlich. Er hat durch die tiefe Stimme Gian Lucas einen eher melancholischen Einschlag. An mehreren Stellen werden die in Szene gesetzten Figuren jedoch Zielscheibe ironischer Spitzen: In der Trennungsszene haben die tränenüberströmten Gesichter der beiden Liebenden in Kombination mit dem Song “Be My Baby" viel von einer Karikatur, auch wenn man ihre Verzweiflung gut nachvollziehen kann. Bestimmte Situationen - Aurora, wie sie entschlossenen Schrittes, das Gewehr in der Hand, durch das Buschland schreitet, der von Aurora verübte Mord an Gian Lucas Freund (wobei die Kamera sich um 90° dreht, als nähme sie die Perspektive des Toten ein) oder auch die Ohrfeige, die der Ehemann dem Liebhaber verpasst, woraufhin dieser sofort zu Boden fällt - haben etwas Künstliches, fast Komisches an sich. Die Gestik erinnert auch sehr an das klassische amerikanische Kino, ja gar an den Stummfilm. Und manche Details sind kaum wahrnehmbar, wie die Fotosession der im Baum sitzenden Musikgruppe, die etwas zu lang dauert, oder die unbeabsichtigt obszöne Geste Auroras, die mit ihren Händen die ungefähre Größe des verschwundenen kleinen Krokodils anzeigt, oder auch der Name dieses Krokodils, Dandy - ein laut Gian Luca vermeintlich romantischer Name, der aber heute wie eine lustige Anspielung auf den australischen Kinoerfolg Crocodile Dundee[5] klingt! Diese ganze Geschichte des kleinen Krokodils, die zeitversetzt die Sequenz des Vorspanns wieder aufgreift, scheint im Übrigen eine Art MacGuffin zu sein, eine falsche Fährte, die den Zuschauer auf schelmische Weise in die Irre führen soll.

Die besondere Art der Vertonung unter vorrangiger Verwendung von Off-Stimmen, die mehr oder weniger ausgeprägte Ironie sowie die diversen Anspielungen auf andere große Kinowerke tragen dazu bei, dass der gesamte zweite Teil “unwirklich" wirkt und der Zuschauer gezwungen ist, zur dargestellten Handlung mehr oder weniger auf Distanz zu gehen. Wenden wir uns nun noch den filmischen Stilmitteln des ersten Teils zu, der eine scheinbar realistischere Anmutung hat.

5.2. Eine fragmentierte Realität

Die Ästhetik des ersten Teils scheint auf den ersten Blick wenig markant: Die Szenerie ist im regnerisch-eintönigen Grau der Wintermonate gehalten, es herrscht ein Eindruck von Enge vor, der entsteht, weil sich die Figuren vornehmlich in ihren Wohnungen aufhalten, die Nahaufnahmen überwiegen (anders als im zweiten Teil, der mit vielen Totalen arbeitet, die den Blick auf weite Landschaften freigeben). Die Montage dieser einzelnen Filmsequenzen ist ebenfalls von Bedeutung. Sie stehen einzeln für sich, wirken fast wie Stückwerk, wie ein unvollendeter Einakter. So findet sich Pilar - nachdem sie Aurora im Kasino in Estoril abgeholt und ihr stumm und ohne sie nennenswert zu unterbrechen zugehört hat, als sie ihr von ihren Träumen berichtete - in ihrer dunklen Wohnung wieder, während von draußen das Geräusch prasselnden Regens hereindringt. Das dumpfe Klingeln eines Mobiltelefons ist zu hören. Pilar macht sich nach kurzem Zögern auf die Suche und findet es im Kühlschrank!

Die Fäden, welche die einzelnen Filmsequenzen zusammenhalten, sind somit teilweise sehr dünn, häufig fragwürdiger Natur. Die Handlung scheint nach dem Zufallsprinzip oder willkürlich zusammengeschnitten zu sein. Es entsteht insbesondere Eindruck, dass das Geschehen unvollendet bleibt. Diese fragmentierte, unvollendete, ungewisse Realität kontrastiert mit der klassischen Erzählweise des zweiten Teils, in dem sich die Ereignisse in rascher Abfolge kohärent aneinanderreihen. Das “verlorene Paradies" wird auf diese Weise als Welt porträtiert, die in Bedeutungslosigkeit und Absurdität versinkt. Die “Verrücktheit" der Aurora scheint dabei nur eine verschärfte Form dieses Phänomens darzustellen. Aber genau weil diese Verrücktheit nur vordergründig verrückt und in Wahrheit Zeugnis einer verschütteten Vergangenheit ist, von der die übrigen Protagonisten nichts wissen, erscheint die im zweiten Teil des Films in Szene gesetzte Fiktion ästhetisch als “wahrer" und auf jeden Fall auch intensiver als diese Realität eines tristen Alltags.

Aber es wird wohl jeder Zuschauer selbst entscheiden müssen, ob das Paradies einer auf Film gebannten Leidenschaft der Prosa des Alltags vorzuziehen ist. Ohne die Meinung in eine bestimmte Richtung lenken zu wollen, ist jedoch festzuhalten, dass der zweite Teil des Films, der sich wie gesagt am klassischen Hollywood-Kino anzulehnen scheint, mindestens eine Szene enthält, die in diesem Genre (aufgrund der prüden Normen des Hays-Codes) so nicht möglich gewesen wäre, in der nämlich die körperliche Liebe zwischen Aurora und Gian Luca gezeigt wird: Diese Szene, die durch die tiefe Stimme Gian Lucas, der erläutert, wie sehr ihn diese Leidenschaft geformt hat, mitgetragen wird, ist sehr freimütig gefilmt, ohne Ironie oder andere Verfahren der Verfremdung, und gipfelt in einem Blick der jungen Frau in die Kamera, so dass der Zuschauer direkt in die Szene einbezogen wird. Vielleicht lässt sich daran ja ablesen, dass der Filmemacher der Intensität einer verlorenen Liebe den Vorzug gibt, auch wenn er an anderen Stellen wiederholt die fiktionale Komponente dieser filmischen Rekonstruktion unterstreicht, die nicht wegzudenken ist.

Fragen und Situationen zur Diskussion über den Film

  • Die zwei Hauptteile des Films Tabu tragen die Titel Verlorenes Paradies / Paradies (Paraíso perdido / Paraíso): Sie sind es auf jeden Fall wert, besprochen zu werden. Sind sie wortwörtlich zu nehmen oder leicht ironisch gemeint? Und der Titel des Films selbst, Tabu, was lässt sich dort hineinlesen? Was ist es denn tatsächlich, das zwischen den beiden Teilen “verloren" ging?
  • Auch über den geschichtlichen Hintergrund des Films, der in einer portugiesischen Kolonie spielt (die heute unabhängig ist), lässt sich diskutieren: Hat er Einfluss auf die Liebesgeschichte oder wirkt er als bloße nebensächliche Kulisse? Man kann sich auch fragen, wie sich diese Vergangenheit im ersten Teil des Films, “Verlorenes Paradies" (Paraíso perdido), auswirkt oder dort zum Tragen kommt, der im Lissabon unserer Zeit spielt.
  • Die zwei Teile des Films weisen eine ganz unterschiedliche Ästhetik auf. Sicher erkennen einige Zuschauer Einflüsse oder Zitate aus älteren Filmen wieder. Aber welchen Sinn haben diese Anspielungen? Sollte man hier von Ironie sprechen, von Verfremdung oder Mise en abyme? Sind die Zuschauer in der Lage gewesen, die besondere Art der Vertonung, besonders im zweiten Teil, zu erkennen? Erscheint diese Vorgehensweise originell, angemessen oder vielleicht doch gekünstelt? Und die musikalische Auswahl: Fügt sie sich harmonisch ins Gesamtbild oder ist sie besonders auffällig?

1. Bei vielen Zuschauer bleiben diese Worte nicht hängen (abgesehen vielleicht von der Erwähnung des Krokodils) und sie glauben daher, dass der Name Ventura zum ersten Mal auftaucht, als Aurora ihn in Santas Handfläche buchstabiert (die ihn dann aufschreibt und Pilar das Papier reicht). Aber in ihrem Krankenbett spricht Aurora tatsächlich von Gian Luca, dann von Ventura, ohne dass man begreift, dass es sich um dieselbe Person handelt und das Krokodil tatsächlich existiert hat ...

2. Der Film wurde in Mosambik gedreht, einer ehemaligen Kolonie Portugals, die 1975 nach einem langen Krieg, dessen erste Kampfhandlungen schon 1962 einsetzten, die Unabhängigkeit erlangte. Der Berg Tabu, auf den im Film Bezug genommen wird, existiert jedoch nicht und Mosambik wird unter diesem Namen im Film nicht explizit erwähnt.

3. Hierbei handelt es sich um das Verhältnis von Höhe zu Breite des Bildes: Das Format 1,37:1 (oder 4:3) ergibt somit ein relativ viereckiges Bild. Ende der 1950er Jahre setzte sich im Kino ein breiteres (1,66:1 oder 1,85:1) bzw. beim Cinemascope-Verfahren extrem breites Format (2,66:1) durch. Damit wollte man sich stärker von der Konkurrenz des Fernsehens abheben.

4. Der Vorname der Protagonistin bei Miguel Gomes ist eventuell ebenfalls eine Anspielung auf den Titel eines anderen berühmten Films von Friedrich Murnau, Sunrise (1927), der sich als Aurora ins Portugiesische übersetzen lässt ...

5. Dieses Wortspiel entdeckte Christophe Beney .


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